DENVER, COLORADO
DAN

Wieso zur Hölle nahm sie nicht ab? Es war nun schon das sechste Mal, dass ich hintereinander anrief. Ich war wütend. Nein, fuchsteufelswild. Denn ich wusste, dass sie mich ignorierte, sonst hätte sie meinen Anruf nicht erst nach dem 7. Klingeln abgewürgt.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und liess mich aufs Sofa fallen.
Wie hatte ich nur so naiv sein können? So blauäugig. Dieser penetrante Geruch von verbrannter Haut an unserem Backabend. Wieso hatte ausgerechnet ich, ein Investigationsjournalist, alle Zeichen ignoriert? Wieso hatte ich sie auf ihre Lüge hin nicht konfrontiert? Ich wusste ja, dass sie keine Tante hatte. Wieso hatte ich nicht insistiert, als sie mir nur halbherzige Antworten gegeben hatte?
Weil ich sie liebte und sie nicht verlieren wollte. Das wurde mir nun schmerzhaft bewusst.
«Okay, ruhig nun, Dan!», ermahnte ich mich. Ich ergriff den Laptop. Ich musste diesen Artikel so schnell als möglich aufs Papier bringen, das war jetzt Priorität. Okay, Papier wars nicht mehr, aber Sprichwörter ändern sich ja auch nicht von heute auf morgen.
Meine persönlichen Belange betreffend Ana musste ich für den Moment hintenanstellen. Und scheinbar war sie in einem Meeting oder wollte schlicht und einfach nicht mit mir sprechen. Wir würden es aber später ausdiskutieren!
OSOYOOS, CANADA
JEFF

Gott, war es hier langweilig!
Es herrschte Totenstille. Das einzige Geräusch war das Plätschern des kleinen Baches, der am Rande der Liegenschaft vorbeiführte. Sowie das Rascheln der Blätter im Wind. Und frühmorgens um 5 Uhr begannen die Vögel zu zwitschern. Okay, die Otter, die im Verlaufe des Tages den vom letzten Gewitter gefallenen Eichenstamm anzuknabbern begannen, hatte ich in der Aufzählung noch vergessen.
Also was ich sagen wollte, war, dass hier absolut nichts lief, was sonst bei mir laufen würde. Für gestresste Manager wäre dies allenfalls eine willkommene Oase vollkommener Stille. Der perfekte Rückzugsort für die digitale Entzugskur.
Aber für einen hyperaktiven Instagrammer wie mich das Ebenbild der Hölle. Ich hatte gedacht, dass es nach einer Woche besser werden würde, aber das war weit gefehlt.
Zumindest hatte mir Gregs Anwalt vor zwei Tagen eine Kiste mit den Unterlagen unserer privaten Lockbox sowie einen Laptop per FedEx zukommen lassen. Dank Gregs vorheriger Intervention war jedoch sämtlicher Zugang zu irgendwelchem Internet vollends ausgeschlossen, weder über integriertes Wifi – wie er das wohl zustande gebracht hatte? – noch über Bluetooth oder USB-Hotspot. Einmal gänzlich abgesehen vom Fakt, dass man hier vielleicht eh nur mit Sattelitenhandy Kontakt mit der Aussenwelt aufnehmen konnte.
Irgendwie fühlte es sich ein wenig nach Gefängnis an. Aber da ich zumindest über eine sich über zig Hektaren erstreckende Liegenschaft verfügte und mich darin frei bewegen konnte, durfte ich mich wirklich nicht beklagen. Die Alternative wollte ich mir gar nicht erst vorstellen.
Nachdem mich Aleja letzte Woche in Denver aufgeklärt hatte über meinen kapitalen Fehler, hatte ich mich an Gregs Anwalt gewandt und ihn um Hilfe gebeten.
Da wir beide nur zu gut wussten, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch war, dass ich in einem Verhör ungewollt in eine Falle tappen würde, hatte er vorgeschlagen, dass ich auf dem direkten Weg nach Kanada fahren sollte, um mir dort eine kreative Auszeit zu gönnen. Ich nahm die kürzeste Route von Denver nach Osoyoos und überquerte auf dem wenig patrouillierten Übergang von Oroville die US-Grenze.
Obwohl ich mir grösste Mühe gab, cool und so gar nicht aufgeregt auszusehen – innerlich schwitzte ich Blut. Als der Wächter an der US-Grenze mich jedoch kaum eines Blickes würdigte, konnte ich endlich aufatmen. In Osoyoos angekommen, überquerte ich den See und kam nach etwa 6 Meilen endlich am Ziel an. Das Ferienhaus, oder besser gesagt eines der Ferienhäuser, von Gregs Familie am Bull Moose Trail.
Das nächste Ferienhaus war hundert Meter östlich gelegen, aber momentan nicht in Gebrauch. 200 Meter nördlich hatte es ein anderes Anwesen und dann 300 Meter westlich noch eines. Zum Süden hin gab es ausschliesslich Wald, bis nach 800 Metern der Highway verlief. Ich konnte mich also austoben, ohne irgendeiner Menschenseele begegnen zu müssen. Osoyoos war im Vergleich zu San Francisco winzig. Es hatte gerade mal 5’000 ständige Einwohner. Aber glücklicherweise hatte es viele Touristen, so dass ich nicht allzu gross auffallen würde, wenn ich mich im Ort mit Lebensmitteln versorgen musste.
Und seien wir ehrlich – ich würde wohl kaum international zur Fahndung ausgeschrieben werden wegen Fingerabdrücken, die mich lediglich mit dem Denver Schokoladen-Event in Verbindung brachten.
Hatte mich zumindest Gregs Anwalt zu beschwichtigen versucht.
DENVER, COLORADO
DAN

So, endlich war der Text geschrieben, der Artikel online und glücklicherweise hatte sich damit auch mein Temperament etwas abgekühlt.
Ich wollte nicht glauben, dass Ana mich absichtlich angelogen hatte. Dafür war sie schlicht zu anständig, zu ehrlich. Aber stimmte das? Oder war das nur Wunschdenken meinerseits gewesen?
Ich hatte ein Flair dafür, immer nur das Beste im Gegenüber anzunehmen. Was mitunter vielleicht auch ein Grund war, weswegen ich nicht so erfolgreich war wie andere Journalisten, die sich keine Gedanken darüber machten, wie es sich anfühlte, zu Unrecht einer Tat beschuldigt zu werden.
Meine Artikel fingen nicht an mit «Wieso er es doch sein könnte..» oder «Ist es wirklich zu weit hergeholt, dass…». Ich schrieb immer nur, was ich auch beweisen konnte.
Vielleicht wollte ich gewisse Dinge auch schlicht nicht wahrhaben, weswegen ich immer nur das Beste annahm, bis ich eines anderen belehrt wurde.
Das war die zweifelnde, hartnäckige und unangenehme Stimme in meinem Hinterkopf. Aber ich würde mich nicht von ihr unterkriegen lassen.
Ich war felsenfest überzeugt. Ana war ein guter Mensch und sie würde gute Gründe dafür haben, mich nicht einzuweihen. «Einzuweihen»…
Und nun dämmerte es mir.
Sie hatte es mir nicht davon erzählt, weil der Fakt, dass sie CIPA hatte, sie noch wahrscheinlicher als eine Mitbeteiligte der Sinnlosen machte. Und sie das in der Tat auch war. Um mich zu schützen, wollte sie mich nicht in dieses Wissen mithineinziehen. Denn wenn ich in U-Haft müsste, wäre das für Seline eine Hiobs-Botschaft. Sie war auf mich angewiesen und das wusste Ana.
Nun; es war an der Zeit, den Tatsachen in die Augen zu sehen. Ich stiess mich vom Bürotisch ab, ergriff den Schlüsselbund vom Küchentresen und machte mich auf den Weg.
Die Stunde der Wahrheit hatte geschlagen.
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